Literarischer Sommerschmaus zwischen den Abiturprüfungen
Die Abiturprüfungen sind geschrieben und es herrscht nur noch Flaute im Unterricht, die durch Filme, ausgedehnte Frühstückspausen oder den Austausch von Unterrichtsanekdoten zu überbrücken versucht wird – so das weit verbreitete Klischee. Dass es in der Realität aber meist ganz anders zugeht und man gegen Ende sogar noch zu kreativen Höchstleistungen auflaufen kann, haben die Dreizehntklässler an der Sibilla-Egen-Schule bewiesen. Nachdem eineinhalb Jahre lang fleißig gelesen, analysiert, Stilmittel bestimmt und literarische Epochen gepaukt worden waren, hatten die Schülerinnen und Schüler nun endlich auch mal die Gelegenheit, selbst zur Feder zu greifen und ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Herausgekommen ist dabei ein bunter Erzählband voller spannender, verträumter, kreativer und tiefgründiger Kurzgeschichten und anderen epischen Kurzformen. Dabei verarbeiteten die jungen Erwachsenen emotionale Themen wie Liebe und Freundschaft, setzten sich aber auch mit schwierigeren Aspekten wie Identität, Wahrnehmung, Erwartungshaltungen und Visionen einer möglichen Zukunft auseinander.
Das gemeinsame Schmökern in dem Büchlein bot daher einen optimistischen Blick auf die neuen Perspektiven, die sich nach dem Abitur eröffnen, und einen kleinen – ganz persönlichen – literarischen Vorgeschmack auf den Sommer :-)
"Farben" von Leonie Neber und Charlotte Seibert
Wong saß in der Schule und starrte aus dem Fenster. Alles war trist und düster. Seine Freunde saßen ebenso gelangweilt neben ihm. Auf dem Nachhauseweg kickte Wong ein paar Steine vor seinen Füßen hin und her. Bei seiner Oma zu Hause angekommen, roch es schon süß nach Pfannkuchen. Oma Ching ist immer gut gelaunt. Sie ist anders als alle anderen und fasziniert das ganze Dorf mit ihrer andauernden Fröhlichkeit. Wong hat eigentlich ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Oma, da er seit seiner Geburt bei ihr wohnt. Sie erzählte immer spannende Geschichten aus der Natur. Wenn er bei ihr ist, fühlt es sich immer wie Erholung an. Eine Pause von der leeren, bedrückenden Welt außerhalb ihres Hauses. Trotzdem hat er das Geheimnis für ihren Optimismus noch nicht gelüftet. Heute bedrückte ihn die graue Welt so sehr, dass er sich endlich traute zu fragen: „Oma, wie kannst du immer so fröhlich sein? Es ist hier doch nur schwarz und weiß… das ist so langweilig.“
„Farben, mein Liebling“.
„Was sind Farben?”, fragte Wong. Seine Oma antwortete: „Farben sind wie Magie. Sie machen die Welt bunter, schöner und interessanter.” Wong war neugierig und wollte mehr wissen. Er fragte seine Oma, ob sie ihm zeigen könne, wie Farben aussehen. „Das kann ich dir nicht zeigen, Wong, das musst du schon selbst entdecken. Ich kann dir aber einen Tipp geben. Geh in den Wald an die kleine Brücke beim Fluss und schließe die Augen. Vielleicht siehst du dann etwas, was dir weiterhilft.“
Wong machte sich mit einem eingerollten Pfannkuchen direkt auf den Weg zur Brücke. Dort setzte er sich auf einen Stein am Fluss und schloss die Augen. Er atmete tief ein und aus und lauschte dem Gezwitscher der Vögel. Als er dann die Augen aufmachte, saß ein großer Vogel vor ihm. Er war anders als alle anderen Vögel, die er kannte. Er war nicht nur schwarz und weiß, sondern sein Gefieder strahlte in den buntesten Farben. Da erinnerte sich Wong an die Geschichten seiner Oma. Sie erzählte ihm immer von einem Regenbogen und dass er aus vielen verschiedenen Farben besteht. Sie erzählte ihm von einem bunten Blumenfeld und einem blauen Himmel. Wong schaute nach oben und auch der Himmel war nun tatsächlich blau. Sein Gesicht spiegelte sich im blauen Wasser des Flusses und die grünen Bäume wiegten sich im Wind über einer Wiese voller bunter Blumen. So rannte er nun voller Begeisterung zu seiner Oma nach Hause. An allen tristen Gesichtern des Dorfes vorbei und seine Oma lächelte ihm schon aus dem Küchenfenster entgegen. Wong berichtete Oma Ching total außer Atem von seiner Entdeckung. Oma Ching lächelte und antwortete: „Siehst du, das ist das Geheimnis. Wenn du die Farben einmal gesehen hast, vergisst du sie nie mehr und du kannst dich immer an ihren Glanz und ihre Schönheit erinnern. Oder auch immer wieder zur Brücke zurückgehen. Das Wissen darüber, dass die Welt eben nicht nur schwarz und weiß ist, sondern noch so viel mehr, macht mich jeden Tag glücklich.“
Am nächsten Tag rannte Wong in die Schule zu seinen Freunden und verabredete sich mit allen an der Brücke am Fluss, um auch ihnen dieses unbeschreibliche Gefühl zu schenken.